
Eine kleine fiktive Kurzgeschichte
Frank zog die Tür der Piper PA-28 Archer II mit einem satten Klicken zu. Der vertraute Geruch von Avgas, Leder und altem Kunststoff füllte die kleine Kabine – eine Mischung, die für ihn nach Zuhause roch. Er streckte die Finger und legte die Hand auf den Steuerknüppel. Wie oft hatte er diesen Griff schon gespürt? Hunderte Male. Vielleicht Tausende. Doch heute war es anders.
Es war sein letzter Flug.
Nicht weil er in Rente ging. Nein. Frank war 52, kerngesund, mit einem gültigen Medical und mehr als genug Stunden im Logbuch. Aber dieser Flug sollte eine andere Art von Abschied werden. Eine letzte Suche. Eine letzte Hoffnung.
Das Vermächtnis
Ein Jahr zuvor hatte Frank einen Brief erhalten. Kein offizielles Schreiben, keine Email – ein handgeschriebener Brief, adressiert an ihn, frankiert in Kolumbien. Der Absender: Capitán Rafael Morales. Sein Vater. Oder besser gesagt: der Mann, der behauptete, sein Vater zu sein.
Frank war in Bayern geboren, seine Mutter hatte nie über seinen Vater gesprochen. Sie sei in den 70ern als Stewardess geflogen, sagte sie, und das Thema sei „kompliziert“. Doch in dem Brief stand, dass Morales ein ehemaliger FARC-Pilot gewesen sei, der nach dem Frieden ins zivile Leben zurückkehrte – und dass er ein Kind in Deutschland zurückgelassen hatte.
Frank hatte es erst für einen Scherz gehalten. Doch das beiliegende Schwarz-Weiß-Foto zeigte einen Mann mit demselben schmalen Gesicht, denselben Augenbrauen. Und hinter ihm? Eine Piper PA-28 – wie die, in der Frank nun saß.
Doch das Entscheidende war der letzte Satz:
„Wenn du wissen willst, wer du bist – flieg nach San Vicente del Caguán. Dort wartet deine Geschichte auf dich.“
Flugplan ohne Rückflug
Frank hatte sich nie mit Mystik beschäftigt. Aber etwas an der Idee, sich selbst über den Horizont hinaus zu finden, ließ ihn nicht los.
Er plante diskret. Charterte in Florida eine PA-28 mit Zusatztanks. Die Route: über Kuba, durch Zentralamerika, schließlich nach Kolumbien – ein riskantes, aber nicht unmögliches Unterfangen, sofern man die richtigen Genehmigungen und ein gutes Maß an Diskretion besaß.
Heute war der letzte Tankstopp vor der Grenze zu Kolumbien. Er saß am Rollfeld eines kleinen Airstrips in Panama, überprüfte zum dritten Mal die Avionik. Die alten analogen Anzeigen in der Piper – Höhenmesser, Fahrtmesser, Künstlicher Horizont – wirkten wie Relikte aus einer anderen Zeit. Doch sie waren zuverlässig. Vertraut. Anders als die Geschichte, in die er sich gerade hineinmanövrierte.
Ein letzter Blick auf das Foto des Mannes mit der gleichen Nase. Frank steckte es ins Kartenfach.
„Delta-Echo-Whiskey-Papa-Alpha, bereit zum Abflug.“
Der Himmel schweigt
Die ersten Stunden verliefen ruhig. Das Wetter hielt, die Wolken bildeten nur kleine Hügel in der Atmosphäre. Frank flog IFR – auch wenn das offiziell in Teilen dieser Route nicht durchgängig genehmigt war.
Doch dann, über dem kolumbianischen Dschungel, zwischen Pasto und San Vicente, fiel das Funkgerät aus.
„Komm schon…“, murmelte Frank, drehte an den Frequenzreglern, prüfte die Sicherungen. Nichts. Tot. Die Anzeigen waren stabil, Motorlauf ruhig – aber der Funk: Schweigen.
Er war nicht in unmittelbarer Gefahr. Noch nicht. Aber allein über kolumbianischem Gebiet, ohne Kommunikation, mit sinkender Sicht – das war keine Position, in der man lange verweilen wollte.
Frank zog eine weite Rechtskurve, peilte nach Sicht. Auf der alten Papierkarte, die er mitgenommen hatte, war ein kleiner Streifen markiert – eine verlassene Piste, von Morales vermerkt. „Rana Verde“ stand dort. Kein ICAO-Code. Nur ein handgeschriebener Punkt. Eine dieser vergessenen Runways, wie sie im Dschungel noch aus Guerilla-Zeiten existierten.
Er entschied sich zur Landung.
Rana Verde
Die Landung war holprig, aber erfolgreich. Die kleine Piper kam auf einem von Bäumen überwucherten Feld zum Stehen. Der Himmel dämmerte bereits, als Frank die Tür öffnete und von feuchter, schwerer Luft empfangen wurde.
Ein alter Jeep wartete am Rand der Lichtung.
Frank griff nach dem Notrufsender – doch zögerte. Irgendwas sagte ihm, dass dies kein Zufall war. Dass der Funk nicht einfach „ausgefallen“ war. Jemand wollte, dass er hier landete.
Ein Mann stieg aus dem Jeep. Alt. Dunkle Haut. Pilotensonnenbrille.
„Frank?“
Frank nickte, die Hand instinktiv an der Gürteltasche. Kein Colt, nur ein Schweizer Taschenmesser.
„Ich bin Mateo. Rafael ist tot. Aber er hat dir etwas hinterlassen.“
Das Logbuch
Im Jeep, zwischen alten Flugkarten, Avgas-Kanistern und Funkgeräten, lag ein schwarzes Buch. Leder. Abgegriffen. Auf der ersten Seite: „Morales, Rafael – Personal Log“.
Mateo erklärte, dass Morales nach dem Ende seiner Zeit als FARC-Pilot das Fliegen nicht aufgegeben hatte. Er flog Medizin, Vorräte, Informationen. Für beide Seiten. Und irgendwann – aus Reue oder Einsicht – begann er, alles zu dokumentieren.
Flüge. Orte. Namen. Und Hinweise auf etwas, das er „El Archivo“ nannte – ein verstecktes Archiv mit Beweisen für verdeckte Operationen in Kolumbien. Morales wollte, dass sein Sohn – der nicht in seine Fußstapfen treten musste, aber durfte – es fand und entschied, was damit geschehen sollte.
Frank blätterte durch das Buch. Da waren Koordinaten, Codes, Flugnummern. Und am Ende ein Brief:
„Ich konnte dich nie sehen. Aber ich hoffe, dass du fliegst. Denn nur wer fliegt, kann entscheiden, ob er landet – oder weitergeht.“
Entscheidungen
Frank hatte zwei Optionen.
Er konnte zurückfliegen. Meldung machen. Das Archiv an Behörden übergeben. Oder er konnte es finden – und selbst entscheiden, ob er sein Leben riskieren wollte, um dunkle Wahrheiten ans Licht zu bringen.
Er wählte die zweite Option.
Am nächsten Morgen hob er mit der Piper wieder ab. Der Funk war plötzlich wieder da. Mateo hatte nur gelächelt.
„Rafael hatte viele Freunde. Und viele, die ihm etwas schulden.“
Die Koordinaten führten zu einer abgelegenen Hacienda. Dort, in einem alten Hangar, verborgen unter Planen und altem Werkzeug, lag eine Metallkiste. Sie enthielt Festplatten. Originalberichte. Sogar Videoaufnahmen.
Frank sah sich eines an. Eine Aufnahme seines Vaters – verwittert, aber lebendig. Rafael sprach in die Kamera:
„Wenn du das siehst, bin ich vielleicht tot. Aber die Wahrheit lebt. Und du – du musst entscheiden, was damit geschieht.“
Der Flug ins Licht
Frank flog zurück nach Bogotá. Die Papiere, das Logbuch, die Aufnahmen – alles in der Piper gesichert. Er meldete sich bei der deutschen Botschaft, erzählte nur, dass er notlanden musste. Ein halbes Jahr später begann eine Welle von Enthüllungen, ausgelöst durch „anonyme Quellen“. Namen tauchten auf. Firmen. Operationen. Eine neue Untersuchung in Den Haag.
Frank blieb im Hintergrund. Kehrte zurück nach Deutschland.
Doch er flog weiter. Immer wieder. Nicht als Flucht – sondern weil er verstanden hatte, was sein Vater meinte:
„Nur wer fliegt, kann entscheiden, wo er landet.“
Und manchmal, wenn er die Hand auf den Steuerknüppel legt, spürt er etwas anderes – als ob da noch jemand mit ihm fliegt.
Nicht der Schatten der Vergangenheit.
Sondern ihr Licht.
~ Ende ~