„Früher war alles anders.“ Diese Worte hallten durch Inges Gedanken, während sie auf die Facebook-Seite ihres Enkels starrte. Er hatte wieder ein Bild gepostet, diesmal von seinem letzten Skiurlaub in den Alpen. Inge war 72 Jahre alt, und obwohl sie mit dem Internet vertraut war, konnte sie nicht verstehen, warum alle Welt jede Kleinigkeit ihres Lebens online teilte. Sie scrollte mechanisch durch ihren Newsfeed, sah sich die Bilder an, die ihre Bekannten posteten: Urlaubsbilder, Kinderfotos, Zitate über das Glück. Doch statt Freude oder Verbundenheit zu fühlen, spürte sie eine wachsende Leere.
Seitdem ihre Tochter sie vor einigen Jahren dazu gedrängt hatte, sich ein Smartphone und ein Facebook-Profil zuzulegen, war Inge zunehmend in die digitale Welt gezogen worden. Anfangs war es spannend. Sie konnte sehen, was ihre Freunde und Verwandten machten, ohne das Haus zu verlassen. Doch nach und nach hatte sich diese Verbindung in etwas anderes verwandelt – in eine ständige Flut von Informationen, die sie überforderte und ihr das Gefühl gab, dass das echte Leben immer weiter in den Hintergrund rückte.
Auch Peter, 65 Jahre alt und seit kurzem in Rente, empfand ähnlich. Er war von Natur aus ein geselliger Mensch, doch seit er sich vor einem Jahr bei Instagram angemeldet hatte, fühlte er sich seltsam isoliert. Er folgte dort ehemaligen Kollegen, alten Schulfreunden und natürlich seinen Kindern und Enkeln. Doch während er durch die endlosen Fotos von glücklichen Gesichtern, prunkvollen Hochzeiten und extravaganten Mahlzeiten scrollte, bemerkte er, dass er sich zunehmend unzulänglich fühlte. Er verglich sein Leben – ruhig, zurückgezogen und voller alltäglicher Routinen – mit dem scheinbar aufregenden Leben seiner Freunde und Familie.
Immer öfter saß Peter in seinem Wohnzimmer, das Smartphone in der Hand, und fragte sich, ob es überhaupt noch einen Wert hatte, persönlich mit jemandem zu sprechen. Wozu sollte er anrufen, wenn er ohnehin alles Wichtige schon in den sozialen Medien sah? Die Gespräche, die er führte, wurden kürzer und oberflächlicher. „Ich habe doch alles schon gesehen“, sagte er sich oft, wenn ein Bekannter ihm von einem Ausflug erzählte, den er bereits auf Instagram verfolgt hatte.
Dann war da noch Ursula. Ursula war 68 Jahre alt, und im Gegensatz zu Inge und Peter war sie nie wirklich Teil der digitalen Welt geworden. Sie hatte kein Facebook-Konto, keine Instagram-Seite, und sie hatte auch nie das Bedürfnis verspürt, eines zu haben. Doch in den letzten Jahren hatte sie gemerkt, dass sie sich zunehmend ausgeschlossen fühlte. In Gesprächen mit ihren Freundinnen hörte sie immer wieder dieselben Sätze: „Hast du das auf Facebook gesehen?“ oder „Schau mal auf WhatsApp, da habe ich dir das Foto geschickt.“
Ursula wusste, dass sie einen Schritt in die digitale Welt wagen müsste, wenn sie den Anschluss nicht verlieren wollte. Aber sie spürte auch einen tiefen Widerstand. Für sie war das Internet ein undurchdringliches Labyrinth, ein Ort, an dem Menschen ihre Zeit verschwendeten, anstatt im Hier und Jetzt zu leben. Sie liebte es, in den Park zu gehen, den Duft der Blumen zu genießen und das Leben zu beobachten. Doch je mehr Zeit ihre Freundinnen online verbrachten, desto weniger schienen sie diese einfachen Freuden zu teilen.
Eines Abends beschloss Inge, das Thema in ihrer wöchentlichen Strickrunde anzusprechen. „Geht es euch auch so?“, fragte sie zögerlich, während sie an einem neuen Schal arbeitete. „Ich meine, mit dem ganzen Internet-Zeug. Es ist, als wäre das Leben plötzlich weniger… real.“
Peter, der an der Runde teilnahm, nickte sofort. „Ich weiß genau, was du meinst. Früher habe ich mich auf die Treffen mit alten Kollegen gefreut. Jetzt sehe ich schon alles online, bevor wir uns überhaupt treffen. Es gibt nichts Neues mehr zu erzählen.“
„Genau“, fügte Ursula hinzu, die sich zwar nicht im Internet auskannte, aber dennoch die Auswirkungen spürte. „Ich habe das Gefühl, dass die Leute gar nicht mehr richtig zuhören. Sie sind nur noch mit ihren Handys beschäftigt, selbst wenn sie mit dir im selben Raum sitzen.“
Das Gespräch wurde lebhafter. Die anderen Mitglieder der Strickrunde, alle zwischen 60 und 75 Jahre alt, stimmten zu. Sie sprachen über ihre Erfahrungen, wie das Internet und die sozialen Medien ihr Leben verändert hatten. Für einige war es eine Möglichkeit, mit der Familie in Kontakt zu bleiben, aber für die meisten war es zu einer Belastung geworden. Sie fühlten sich gezwungen, mitzuhalten, ständig erreichbar zu sein und ihre Privatsphäre zu opfern.
„Es ist, als ob das echte Leben weniger wichtig wird“, sagte Inge schließlich. „Ich erinnere mich an die Zeiten, als wir uns einfach getroffen haben, ohne dass jemand vorher ein Foto davon gemacht hat. Jetzt ist es, als wäre nichts mehr wirklich passiert, wenn es nicht online dokumentiert wurde.“
„Und wofür?“, fragte Peter. „Nur damit andere es sehen? Ich meine, ich poste auch ab und zu ein Bild, aber wen interessiert das wirklich?“
Die Strickrunde beschloss an diesem Abend, etwas zu ändern. Sie wollten nicht länger in der digitalen Welt gefangen sein, sondern das echte Leben wieder in den Vordergrund stellen. Sie vereinbarten, dass ihre Treffen von nun an ohne Handys stattfinden sollten, und sie beschlossen, sich öfter persönlich zu verabreden, statt nur Nachrichten zu schreiben.
Inge fühlte sich erleichtert. Es war ein kleiner Schritt, aber es fühlte sich richtig an. Als sie an diesem Abend nach Hause kam, schaltete sie ihr Smartphone aus und legte es in eine Schublade. Sie griff nach einem alten Fotoalbum, das seit Jahren im Regal verstaubte, und begann, durch die vergilbten Seiten zu blättern. Die Bilder erzählten Geschichten aus einer Zeit, als das Leben langsamer war, aber auch intensiver. Jede Erinnerung war klar und scharf, und sie fühlte sich verbunden mit den Menschen, die auf diesen Fotos abgebildet waren.
Auch Peter begann, sich von den sozialen Medien zu distanzieren. Er merkte, dass seine Gespräche mit alten Freunden wieder länger und tiefer wurden, seit sie nicht mehr durch Online-Updates vorweggenommen wurden. Er lud seine Freunde häufiger zum Kaffee ein, und sie sprachen über ihre Erlebnisse, statt sie nur in Bildern zu zeigen. „Es fühlt sich wieder echt an“, dachte er eines Tages, als er mit einem alten Schulfreund im Park spazieren ging.
Ursula, die nie Teil der digitalen Welt war, freute sich, dass ihre Freundinnen wieder mehr Zeit für persönliche Treffen hatten. Sie genossen es, gemeinsam in Cafés zu sitzen, alte Geschichten auszutauschen und über das Leben zu plaudern – ohne die ständige Unterbrechung durch Nachrichten oder Anrufe.
Mit der Zeit begannen auch andere Menschen in ihrem Bekanntenkreis, über die Auswirkungen der sozialen Medien nachzudenken. Einige löschten ihre Accounts, andere reduzierten die Zeit, die sie online verbrachten. Immer mehr Menschen merkten, dass das ständige Teilen und Vergleichen sie nicht glücklicher machte, sondern oft das Gegenteil bewirkte.
Die Welt des Internets war groß, faszinierend und voller Möglichkeiten. Doch für Inge, Peter, Ursula und ihre Freunde gab es einen anderen Weg. Sie hatten das Echte, das Unmittelbare und das Unperfekte wiederentdeckt – und es fühlte sich an, als hätten sie das Leben selbst zurückgewonnen.
Die Strickrunde wurde zu einem festen Bestandteil ihrer Wochen. Sie lachten, erzählten Geschichten und arbeiteten gemeinsam an neuen Projekten. Doch mehr als das: Sie lebten im Moment. Sie waren wieder miteinander verbunden – nicht durch digitale Plattformen, sondern durch echte Gespräche, durch gemeinsame Erlebnisse und durch das einfache, aber bedeutungsvolle Zusammensein.
Das Internet war da, es war nicht wegzudenken. Aber es war nicht mehr ihr Lebensmittelpunkt. Sie hatten den Wert des Offline-Seins neu entdeckt.